Eine Ausnahme. Überleben. Freundschaft. Widerstand.

Irmgard Heydorn und Trude Simonsohn im Portrait.

Wie ich Trude Simonsohn und Irmgard Heydorn kennenlernte

Trude Simonsohn lernte ich kennen, als ich noch in der Schule war. Bei einer Veranstaltung in den Frankfurter Naxos-Hallen berichtete sie 2006 über ihr Leben und ihre Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus. Ich war berührt von ihren Erzählungen über ihr Leben und beeindruckt von ihrer politischen und menschlichen Haltung. Trude Simonsohn war die erste Zeitzeugin, der ich persönlich begegnete und die über Dinge berichtete, über die ich viel gelesen hatte, die mich beschäftigten und die ein wichtiger Grund für mein politisches Engagement waren und nach wie vor sind. Nach Trude Simonsohns Erzählungen entspannte sich eine Diskussion, in der wir darauf zu sprechen kamen, welche Rolle die heutige Generation in Bezug auf die Verbrechen des NS spielt. 

Trude und ich waren uns einig: Die heutige Generation ist in keiner Weise schuldig, doch die Menschen und besonders die jungen Menschen, tragen heute Verantwortung dafür, dass Verbrechen wie im Nationalsozialismus nie wieder passieren. Irmgard Heydorn, die schon zwischen 1933 und 1945 dagegen gearbeitet hat, dass die Deutschen den Nationalsozialismus und seine Verbrechen ermöglichten und begingen, kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Auf sie werde ich gleich zu sprechen kommen.

Eine Freundin und ich luden Trude Simonsohn wenig später ein, in unserer Schule, der Bertolt-Brecht-Schule in Darmstadt, zu sprechen. Der Saal war voll mit interessierten ZuhörerInnen, die Fragen stellten und diskutierten. Trude schloss ihre Erzählungen an diesem Abend mit einem Zitat von Brecht aus ›Das Leben des Galileo Galilei‹: »Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.« 

Nach der Veranstaltung begrüßte der Direktor der Schule Frau Simonsohn. Sie sagte zu ihm, dass sie sich freut, dass auch der Rektor der Schule bei einer Abendveranstaltung anwesend ist. Und eben dieser Rektor antwortete: »Na, wenn meine SchülerInnen so eine tolle Veranstaltung organisieren, ist es doch selbstverständlich, dass ich komme.« Das ist eine Anekdote, die Trude Simonsohn immer wieder erzählt, wenn es darum geht, wie LehrerInnen oder RektorInnen auch sein können, nämlich das Engagement von SchülerInnen anerkennend und unterstützend.

Eine andere Anekdote spielte sich wenig später ab und damit komme ich zu Irmgard Heydorn. Im Sommer 2006 luden wir Trude ein, als Zeitzeugin bei einem »Rock gegen Rechts« in Darmstadt zu sprechen und Trude sagte zu mir: »Ich habe eine Freundin, die wird Dir gefallen, sie heißt Irmgard Heydorn und war im Widerstand.« Sie sollte mehr als Recht behalten, denn alle BesucherInnen des Zeitzeuginnengesprächs waren zutiefst beeindruckt. Das war das erste Mal, dass ich Trude und Irmgard zusammen berichten hörte.

Eben dieser Rock gegen Rechts fand während der Fußball-WM 2006 statt, Deutschland befand sich im Fußballfieber und noch mehr im nationalen Taumel. Einige Tage vor der Veranstaltung rief Trude mich nochmal an und sagte: »Adrian, zu dieser Zeit, wo wir sprechen sollen, ist ein Fußballspiel, ich bin mir nicht sicher, ob da jemand kommt.« Und ich antwortete: »Mach Dir keine sorgen, da werden genug Leute kommen.« Die Leute kamen und es wurde ein langer Nachmittag, den Trude und Irmgard draußen, auf einem auf eine Wiese gestellten Sofa sitzend, mit langen Erzählungen, mit einer angeregten Diskussion mit uns und auch mit einigem Lachen verbrachten – und ich denke es war das einzige Mal, dass die beiden draußen auf einer Wiese sprachen. Davon erzählen die beiden noch heute.

Diese Freundschaft zwischen Trude Simonsohn und Irmgard Heydorn fand ich sofort unglaublich spannend. Ich habe mich damals gefragt, was die Freundschaft zwischen einer Verfolgten und Einer, die im Widerstand war, ausmacht, was sie verbindet und wie sich so eine Freundschaft entwickelt und gestaltet hat. Aus diesem Interesse entstand die Idee zu einem Film: ich stellte eine Kamera auf, legte ein Mikrofon vor die beiden, platzierte es ungekonnt im Bild und drückte auf Record – so entstanden die ersten Aufnahmen.

Ab diesem Zeitpunkt begannen wir, uns besser kennen zu lernen und ich fragte die beiden, ob ich einen Film über sie machen dürfe. Sie waren einverstanden und damit begann ein neues Kapitel.

»Eine Ausnahme...« – Erste Wirren eines ersten Films

»Eine Ausnahme...« war mein erster eigener Film und das brachte in der Anfangsphase einige Schwierigkeiten mit sich. Weder wusste ich, wie man eine Kamera richtig bedient, noch hatte ich je zuvor Interviewfragen entwickelt, geschweige denn ein Interview geführt. Die Kamera übernahm dann Niko Neumann, ein Schulfreund von mir. Er konnte zwar auch noch nicht viel Filmerfahrung aufweisen, wusste aber trotzdem viel mehr über die Kameraarbeit als ich. Wenn ich mir die Aufnahmen heute anschaue, gefallen sie mir trotz ihrer Mängel immer noch sehr gut. Ich finde, Trude und Irmgard werden sehr nah und sehr persönlich gezeigt. 

Anhand der Berichte von Frau Simonsohn und Frau Heydorn wusste ich, was ich ungefähr fragen konnte – die Grenze dessen, was ich fragen darf, konnte ich aber noch nicht einschätzen. Trude konnte diese Bedenken glücklicherweise gut ausräumen, als sie sagte: »Ihr könnt alles fragen.« Ich entwickelte also einen kleinen Fragebogen und versuchte damit alle Themen, die mich interessierten, anzusprechen. Im Nachhinein glaube ich, einige Fragen waren nicht so gut gestellt, aber Frau Simonsohn und Frau Heydorn sind InterviewpartnerInnen mit denen man gemeinsam lernen kann – sie forderten mich oft heraus, selbst Position zu beziehen, ergänzten die Fragen von selbst und wir lachten gemeinsam über meine Versprecher. Nach einem Interview, in dem ich das Gefühl hatte, Frau Heydorn schon sehr ausgefragt zu haben, meinte sie: »Das waren schon alle Fragen? Ich glaube, ihr habt euch ein bisschen schlecht vorbereitet.« Wenn ich daran denke, muss ich heute noch immer schmunzeln. 

Zum ersten Termin kam Heidrun Gartenschläger, meine damalige Kunstlehrerin, die das Projekt unterstützte, mit. Dass auch Freunde zu den Interviews mitkamen, war noch häufiger so. Viele Menschen in meiner Umgebung wollten die Erzählungen der beiden gerne persönlich hören und Frau Heydorn und Frau Simonsohn freuten sich, noch andere jungen Menschen kennen zu lernen. So fuhren wir oft zu dritt nach Frankfurt, holten Trude oder Irmgard zuhause mit dem Auto ab und fuhren gemeinsam in die Wohnung der jeweils Anderen. Dass ich zuvor noch nie mit dem Auto in Frankfurt war, führte oft zu Verspätungen, die Trude und Irmgard aber meistens gelassen und mit Humor nahmen. 

Insgesamt war der Dreh eine sehr intensive Zeit. Die Erzählungen von Irmgard und Trude bewegten mich sehr, nach den Einzelinterviews, in welchen es um die Erlebnisse in der NS-Zeit ging, kam ich traurig und mitgenommen nachhause. Bei anderen Interviews wiederum wurde viel gelacht, gab es einige chaotische Momente und viele schöne. Nach einem der letzten Drehs schrieb ich mir auf: »Von Anfang an hat mich begeistert, wie sie trotz ihres hohen Alters reden und sich ausdrücken können und wie bewusst ihnen ihre Vergangenheit noch heute ist. Erzählen sie, so scheinen sie alles noch einmal zu durchleben, etwas was mich beeindruckt, doch auch immer wieder aufs Neue mitnimmt.« Dass die beiden immer betonten, dass man auch heute und gerade auch in der Schule widerständig sein kann, ermutigte mich. Dadurch, dass wir immer vor und nach den Interviews redeten, gemeinsam Kaffee tranken und Kuchen aßen und uns unterhielten, lernten wir uns immer besser kennen. Gedreht haben wir insgesamt 9 Stunden.

Der Schnitt des Films dauerte dann noch ein halbes Jahr. Zuerst wollte ich die Geschichten der beiden jeweils einzeln erzählen, war aber sehr zufrieden, als ich gemerkt habe, wie das auch zusammen geht. Dadurch trat die politische Bedeutung des Gesagten deutlicher hervor. Wenn Trude sagt, ihr wurde erzählt, niemand habe etwas von den Verbrechen gewusst und Irmgard sozusagen direkt antwortet, »Vieles wusste ich natürlich.«, hat das eine sehr starke Wirkung. Was die historischen Bilder und die verwendeten Landschaftsimpressionen betrifft, so bin ich mir nicht sicher, was ich heute davon halte – aber ich sehe darin eine Suche nach Bildern für Erzählungen, die ich noch nicht gehört hatte und für den Nationalsozialismus, über den ich zwar Bücher gelesen hatte, bei dem ich aber noch nicht wusste, welche Bilder für ihn stehen. Der Film ist damit insgesamt Produkt eines Aneignungs- und Auseinandersetzungsprozesses und gleichzeitig zeigt er ebendiesen Prozess. Heute wirkt er auf mich wie eine Spurensuche. 

Als Motivation schrieb ich damals in mein Tagebuch, ich wolle den Film machen, »um so Gesagtes festhalten zu können, was nicht mehr lange hörbar sein wird.« Wie ich den Film damals gemacht habe, welche Bilder und Impressionen ich verwendet habe, entspricht meinem damaligen Stand – und deswegen bleibt der Film, wie er ist und was er ist: der Film eines 18-19 jährigen Schülers. 

Vorführungen und Reaktionen

Hier möchte ich nur von einem Erlebnis erzählen: von der Premiere. Diese fand in meiner damaligen Schule statt. Es waren sehr viele Leute gekommen und ich war ungemein aufgeregt. Auch Frau Heydorn und Frau Simonsohn waren da und für sie war es ebenfalls die Premiere – sie kannten den Film noch nicht und ich war sehr gespannt, wie sie ihn finden würden. Schon während des Films hatten sich die beiden zuversichtlich gezeigt, haben viel zum Film gefragt und sich insgesamt sehr gefreut, dass ein junger Mensch einen Film über sie macht. Das war auf jeden Fall motivierend, aber setzte mich auch etwas unter Druck. Frau Heydorn sagte beispielsweise einmal am Telefon zu mir, ich hätte einen wunden Punkt der deutschen Nachkriegsgeschichte aufgetan, denn nach 1945 seien Widerständler die einzigen »Deutschen« gewesen, denen Verfolgte unvoreingenommen gegenübertreten konnten, da sie nicht die Befürchtung haben mussten, dass die betreffende Person für das erlittene Leid mitverantwortlich war. 

Das Licht ging aus und der Film startete. In den meisten Momenten war es sehr still, manchmal wurde gelacht, manchmal hörte ich Trude und Irmgard reden. Als das Licht wieder anging war das erste, was man hörte, Irmgards kräftige Stimme. Sie stieß mit ihrem Gehstock auf und sagte: »Adrian, ich finde, da hast Du einen tollen Film gemacht.« Sie waren beide sehr zufrieden. Das war die schönste Rückmeldung, die ich je bekommen habe. 

Heute – ein Web-Videoprojekt

Wenn ich »Eine Ausnahme...« in den letzten Jahren gezeigt habe und Trude oder Irmgard nicht dabei waren, kamen immer wieder ZuschauerInnen auf mich zu, die der Film sehr bewegt hat. Sie fragten mich nach weiteren Informationen zu den beiden, wollten mehr wissen, wollten die Lücken gefüllt sehen, die der Film bewusst lässt. Ich kann diese Fragen oft nicht beantworten, gerade wenn ich gefragt werde, was Frau Simonsohn oder Frau Heydorn zu diesem oder jenem Thema denkt, oder was sie sagen würden, wenn sie eine bestimmte Frage gestellt bekämen. Was ich jedoch noch habe, um diesen Fragen näher zu kommen, ist das im Film nicht verwendete Interviewmaterial. In diesem kommen Irmgard und Trude persönlich zu Wort und können einige der Fragen, die oft aufkommen, ausführlicher beantworten, oder neue Fragen aufwerfen und neue Anregungen geben. Das war meine Motivation, mich nach 6 Jahren erneut mit dem Filmmaterial auseinanderzusetzen und die restlichen Interviews wieder hör- und sichtbar zu machen. Entstanden sind dadurch 2 Stunden Film. In einzelnen Clips werden die Fragen beantwortet, die ich 2006-2007 als Schüler an Irmgard Heydorn und Trude Simonsohn gestellt habe und ich habe beim Sichten aufgeschrieben, welche Begriffe damals neu für mich waren, wo ich außerhalb der Interviews nachgefragt habe und wo Lücken geblieben sind. Die Stichpunkte, die den Clips jetzt zugeordnet sind, sind das Ergebnis davon. Durch sie will ich eine kurze Zusammenfassung, einen Einblick in die jeweilige Thematik geben und darauf verweisen, worüber und wo man noch mehr Fragen und Antworten bekommen kann.

Die Videos auf einer Website bereitzustellen war dann naheliegend – das Internet ist für die meisten Menschen in Deutschland zugänglich, in Schulen, Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen kann ohne große Hindernisse damit gearbeitet werden. Und ich hoffe, dass eine Website und die Art und Weise, wie auf ihr persönliche Erfahrungen und historisches Wissen vermittelt werden, für junge Menschen ansprechend ist. Die Form, wie die Interviews jetzt zugänglich sind, soll es ermöglichen, sich entweder einfach auf die Interviews zu konzentrieren, oder gleichzeitig einen Einblick in den historischen Kontext und Fotos und Dokumente aus dieser Zeit zu bekommen. 

»Ein Buch kann einen Bericht von einer Zeitzeugin, die in persona vor einem sitzt, nicht ersetzen.« 

Das sagte Trude Simonsohn zu mir und ich denke, das gilt genauso auch für diese Website und für die Videos, die hier zur Verfügung gestellt werden. Deutlich wird das in den Momenten, in welchen man mit Trude Simonsohn und Irmgard Herydorn persönlich spricht, sie auf Veranstaltungen hört, oder einfach nur mit ihnen Kaffee trinkt und sie sich über gemeinsame Zeiten unterhalten – das sind Erfahrungen, die man erleben, aber nur schwer vermitteln kann. Trotzdem ist es wichtig, dass es diese Videointerviews gibt. Denn die Möglichkeit, persönlich mit Überlebenden des Nationalsozialismus sprechen zu können, schwindet merklich und die Zeit, in der das überhaupt noch möglich ist, ist begrenzt. Dabei ist das gerade heute, im Angesicht von grassierendem Nationalismus und Rassismus und den Morden des NSU so wichtig. Denn durch Gespräche mit ZeitzeugInnen kann deutlich werden, wie Geschichte und Gegenwart zusammenhängen und dass man heute viel aus der Geschichte lernen und es in der Gegenwart anwenden kann. Das ist es auch, was Trude und Irmgard jungen Menschen vermitteln wollen: »Passt auf, dass das nicht wieder geschieht, und sagt rechtzeitig und laut genug Nein.«

Ein Film von Adrian Oeser 

Adrian Oeser hat Politikwissenschaft, Pädagogik und Soziologie in Frankfurt am Main studiert und dreht nach wie vor Dokumentarfilme. Erste Filmerfahrungen sammelte er im Rahmen eines Schulprojekts, in dem er einen Film über die Proteste gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens in den 80er-Jahren drehte. Außerdem engagierte er sich in der Schulzeit bei Hyperlinks gegen Rechts, einem Web-Projekt gegen Rechtsextremismus. Auch Irmgard Heydorn und Trude Simonsohn lernte er kennen, als er noch zur Schule ging. »Eine Ausnahme...« war sein erster selbständig produzierter Film. 

Von 2009-2013 produzierte Adrian Oeser gemeinsam mit der Projektgruppe Docview den Dokumentarfilm »Erhobenen Hauptes. (Über)Leben im Kibbuz Ma‘abarot«, der fünf Menschen portraitiert, die in den 30er- und 40er-Jahren aus Deutschland flohen oder den Nationalsozialismus in Europa überlebten und in Palästina und später Israel den sozialistischen Kibbuz M‘abarot aufbauten. Der Film, der in einer basisdemokratischen Arbeitsweise erstellt wurde, ist bei Absolut Medien erhältlich.

Kameraarbeit von Niko Neumann

Nico Neumann, Jahrgang 1988, studiert Physik in Darmstadt und begeistert sich seit seiner Schulzeit für Film und Fotografie. Neben »Eine Ausnahme...« drehte er bereits als Schüler weitere Dokumentationen und eine Literaturverfilmung. Im Rahmen seines Studiums produziert er Lehr- und Demonstrationsfilme, die sich vorrangig mit physikalischen Themenstellungen befassen. In seiner Freizeit dreht Nico Neumann zudem nach wie vor Kreativfilme. 

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